Gysis Autobiografie macht neugierig. Gibt es neue Sichten auf die DDR oder das Innenleben der Linken? Zumindest letztere Erwartung wird enttäuscht – der Autor ist seiner Partei wie seiner Familie gegenüber extrem loyal und glättet viele Widersprüche. Seinem Erzähltalent ist es geschuldet, dass man die 500 Seiten trotzdem fast am Stück durchliest: Ausführlich schildert er seinen kosmopolitischen Familienhintergrund (Tante Doris Lessing ist wohl das berühmteste Mitglied, aber auch der „Vater der Geflügelzucht“ kommt vor). Gysis Vater Klaus war der Reihe nach Kulturminister der DDR, Botschafter in Rom, Staatssekretär für Kirchenfragen. Beide Eltern kommen aus dem antifaschistischen Widerstand, ja sie sind aus dem sicheren Exil auf Parteibefehl in den lebensgefährlichen Berliner Untergrund zurückgekehrt. Die Eltern wurden geschieden, Gregor blieb bei der Mutter (nach der Scheidung seiner eigenen Ehe wird er hingegen alleinerziehender Vater). Wie wird so jemand Rechtsanwalt – ein seltener Beruf in der DDR? Es war wohl der Drang nach Unabhängigkeit, die Selbständigkeit, die ihn anzog, auch die Lust am Widerspruch, an der Suche nach der exakten Formulierung. Sein „Eintritt in die Politik“ mit der Anmeldung der Demonstration vom 4.November 1989 (auch in der DDR können/müssen Demonstrationen angemeldet werden) vollzieht sich eher zufällig, soeben war er noch bekannter Anwalt für Dissidenten. Für „Wessis“ spannend, die DDR einmal aus dieser Perspektive zu sehen!
Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig