Bern, 31. Dezember.
Wieder geht das Jahr blutig zu Ende, ohne dass das gärende Europa sich gefunden hätte. Wieder sind im Laufe dieses Jahrs Hunderttausende in der Lebensblüte in ein grässliches Grab gesunken, weitere Zerstörungen vollbracht worden, die in Jahrzehnten nicht wiederhergestellt werden können. Das Unheil geht weiter. Und doch! Mehr als an den beiden vorhergehenden Jahreswenden des Kriegs dürfen wir heute auf ein Ende hoffen.
…
Gerade heute wird die Antwort der Entente auf den deutschen Friedensvorschlag veröffentlicht. Man wird sie schroff nennen, sie als Ablehnung bezeichnen, unsere Vaterlandspächter und Heimkrieger werden sich entrüsten über Ton und Inhalt. …
Über das Äussere der Note hinweggehend, muss man ihren Kern betrachten, ihr eigentliches Wesen, …
Und diese Betrachtung des «Ding an sich» zeigt uns zunächst — und wieder einmal — dass die Kriegführenden, die sich seit dreissig Monaten nur zur Zerstörung und Tötung begegnen, miteinander reden. …
Viel sprachen die Verfasser der Entente-Note um den Frieden herum. Vielleicht zuviel. Aber — wie der deutsche Dichter richtig sagt: «Man spricht nicht so ausführlich, wenn man den Abschied gibt.» Und in der Tat, ein Abschied ist das Schriftstück nicht; es enthält Anfragen, es enthält Richtlinien, …
Die Betrachtungen, die sich in die Vergangenheit verlieren, lässt man am besten beiseite. Sie sind das Hemmwerk der Maschine. Dass die Gegenwart in der Antwort anders beleuchtet und eingeschätzt wird, als in der Anfrage, ist begreiflich. …
Bleibt die Betrachtung über die Zukunft. Auch sie ist verzerrt und verschleiert durch Verdächtigungen und Misstrauen. Man lasse sich aber durch diesen feldgrauen Stil nicht täuschen. Er dient nur dazu, die Forderungen einzukleiden. Diese sind:
1. Wiederherstellung der verletzten Rechte und Freiheiten,
2. Die Anerkennung des Neutralitätsprinzips,
3. Sicherstellung der kleinen Staaten,
4. Wirkliche Garantien für die Sicherheit der Welt,
5. Wiederherstellung und Sicherheiten für Belgien.
Das sind Forderungen, über die sich reden lässt.
Es wird an Deutschland liegen, auf den Kern der Antwortnote einzugehen und eine Grundlage zu bieten, die den Zweifeln über die Echtheit des Friedenswillens des Vierbunds Abbruch tut. Die Entente will verhandeln, dies beweist der Satz, wonach ihre Friedensliebe «heute ebenso entschieden» ist, «wie 1914». Sie will verhandeln, dies bezeugt ihre angebliche Besorgtheit, dass der «Versuch zu Verhandlungen zur Unfruchtbarkeit verurteilt werden könnte», wenn gewisse Behauptungen aufrechterhalten bleiben. Sie will verhandeln, weil sie das Friedensangebot nicht ablehnt, sondern bloss erklärt, dass sie «eine Anregung ohne Angabe von Bedingungen für die Eröffnung von Verhandlungen» als ein Friedensangebot nicht ansehen kann. Sie verlangt überdies mehr Inhalt und mehr Präzisierung des Angebots.
Wenn es zum Schluss heisst, dass die verbündeten Regierungen es ablehnen, den Vorschlag ernst zu nehmen, so lehnen sie das Friedensangebot als solches nicht ab, sondern nur dessen, ihrer Ansicht nach unvollkommenen Inhalt.
Die Bewegung zum Frieden ist im Fluss. Sie kann nicht mehr aufgehalten werden. Der wahnsinnige Krieg, dessen Urheber der Fluch der Menschheit treffen wird, neigt sich seinem Ende zu.
Das kommende Jahr wird ein Jahr schwerer Arbeit für alle werden, die dem Pazifismus, den die Ereignisse zur Losung der Zeit gemacht haben, ihre Kräfte weihen. Das Haus Europas soll gezimmert werden nach unsren Plänen, nach unsren Wünschen, auf Grund unsrer Vorarbeiten. Es wird das Jahr der Erfüllung werden.
In dieser Voraussicht, beseelt von diesen Hoffnungen, schließe ich meine Eintragungen für 1916.