Bern, 10. November.1918
Die letzten Stunden des Weltkriegs! Der Waffenstillstand kann bereits abgeschlossen sein; er muss bis morgen vormittag 11 Uhr unterzeichnet werden. Das internationale, das organisierte Morden wird nun nach 51 Monaten aufhören. Ob aber nicht das nationale, das unorganisierte Morden erst recht einsetzen wird, das ist die bange Frage, die uns beschäftigt. Die Ereignisse weisen darauf hin.
In Deutschland ist die Revolution im vollen Gang. Die Truppen schließen sich ihr an. In Berlin machen die Garderegimenter gemeinsame Sache mit dem Volk. Rote Fahnen wehen. (…). Es geht bis jetzt ziemlich unblutig und geordnet von statten. In München haben die Truppen und die Polizei sich in den Dienst der republikanischen Regierung gestellt. Das Haus Wittelsbach ist gestürzt. (…)
Der Sozialdemokrat Ebert ist bereits Reichskanzler. Es kommt die Republik. Das Volk steht auf. Es hat die Ketten des autokratischen Staates zerrissen, es hat durch die Qualen dieses verruchten Kriegs sich auf sich selbst besonnen und das Mittelalter völlig abgestreift.
In dieses heilige Werden hinein grinsen die Waffenstillstandsbedingungen der Entente, die heute, zum Teil wenigstens, bekannt wurden. Es sind wohl die erniedrigendsten Zumutungen, die seit den Barbarenzeiten des Altertums einem Volk gemacht wurden. (…) Binnen 72 Stunden ja oder nein. Es liegt der typisch militaristische Sadismus darin. Rache, Erniedrigung, Weiden an des Gegners Qualen. (…)
Der Waffenstillstand währt dreißig Tage. Kommt es bis dahin nicht zum Frieden, wird der Krieg nach Deutschland hineingetragen.
Das ist das Los, das die verbrecherischen Urheber des Kriegs dem deutschen Volk beschert haben. So grausam es ist, es ist begreiflich, es ist verständlich. Sind doch in diesen Bedingungen jene Gefühle summiert, die hervorgerufen wurden durch den frivolen Beginn des Kriegs, durch den Einfall in Belgien, die Zerstörung von Löwen, … durch die Füsilierungen und Deportationen von Bürgern, … durch die Versenkung der Lusitania, …durch die Fliegerbombardements von London, Paris, … durch die fast vierjährige Seelenqual der Bevölkerung in Nordfrankreich. und Belgien, durch den namenlosen Mord der zahllosen Jugend auf den Schlachtfelder aller fünf Wellteile. Wahrhaftig, so betrachtet, sind die Bedingungen noch milde für ein Land, dessen Gebiete vom Krieg fast ganz verschont geblieben sind. (…)
Der Krieg geht zu Ende, ist zu Ende. Nun wird es sich zeigen, ob der Friede dem von den Militärs diktierten Waffenstillstand gleichen wird, … Nein! Nein! Der Friede muss ein endgültiger, ein die Freiheit aller, ein den Krieg tötender Friede sein, kein Rachefrieden militärischen Geistes.
(aus dem Kriegstagebuch von Alfred H. Fried)