Bern, 17. Oktober.
Die Abstumpfung gegen das Elend, das ist das Fürchterliche. Wir merken gar nicht, wie wir immer tiefer und tiefer sinken. Früher erschrak man noch, wenn man eine Meldung las wie die folgende: «Eines unserer Unterseeboote hat im Mittelmeer am 4. Oktober den französischen Hilfskreuzer «Gallia» durch einen Torpedoschuss versenkt. Von den an Bord der ,Gallia’ befindlichen serbischen und französischen Truppen (…) sind etwa tausend Mann umgekommen. Das Schiff sank innerhalb 15 Minuten.»
Der Stil der Meldung ist triumphierend. (…) Bravo! – Und man denkt kaum mehr an dieses tausendfache, zappelnde Leben, das hier durch einen Torpedoschuss (wie billig!) unschuldig vernichtet wurde. Unschuldig! Denn die armen Teufel, die ersäuft wurden, haben nichts gewollt und nichts getan und wissen nicht warum das alles. Und wir begreifen das Entsetzliche gar nicht mehr. — In dreihundert Jahren hat die spanische Inquisition, die als etwas Entsetzliches gilt, 30,000 Opfer vernichtet. Wie wird man später diesen mit allen Fortschritten der Technik geführten Ausrottungskrieg beurteilen? – Wahnsinn wird kaum mehr die gebührende Erklärung bieten.
Wahnsinn? Gestern war ein junger deutscher Arzt bei mir, der die Erscheinungen der Kriegspsychose wissenschaftlich in einem Buch behandelt. Er kommt zu dem Schluss: paranoia magna. (…)
Und weil ich nun gerade bei Wahnsinn, Psychose und Psychologie bin: über die Greuel gegen Armenier dringen in Flugschriften entsetzliche Schilderungen auf uns ein. Diesmal Dokumente von Deutschen. So vom «Lehrerkollegium der deutschen Realschule in Aleppo». Die Greuel der Schlachtfelder sind nichts gegen diese haarsträubenden Schilderungen. Zu Tausenden lässt man die Armenier verhungern, am Ufer des Wassers liegend verdursten. «Über hundert Leichen Verhungerter trägt man täglich aus Aleppo heraus.» Viele werden vorher irrsinnig. Man massakriert 5000 auf einmal, man treibt 3000 Weiber und Kinder in tagelangen Märschen zum Euphrat und ersäuft sie dort. Jeder, der sich retten will, wird erschlagen. Die Männer stehen derweil an der Front. — Genug!